Autor : Philippe Hoch, |
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Man meint häufig, dass jede Inkunabel zugleich auch ein seltenes Buch ist. Obwohl es zweifellos stimmt, dass zahlreiche Zeugen aus der Frühzeit der Buchdruckerkunst nur noch in wenigen Exemplaren, wenn nicht gar als Unikate erhalten sind - von den Drucken, die spurlos untergegangen sind ganz zu schweigen -, ist doch der Liber chronicarum von Hartmann Schedel (der auch unter dem Titel Schedelsche oder Nürnberger Chronik bekannt ist) ein Beispiel für eine Art "Bestseller" aus dem "Herbst des Mittelalters". Es gibt heute noch zahlreichen Bibliotheken, die zumindest eine Ausgabe dieses Werks ihr eigen nennen; allein die Bibliothèque nationale de France besitzt elf davon. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass alle drei Partner des Projekts "Zukunft für Vergangenheit" beschlossen haben, ein Exemplar dieses hochberühmten Werks restaurieren zu lassen. Der Verfasser der Chronik, Hartmann Schedel, seines Zeichens Arzt und Humanist, wurde 1440 in Nürnberg geboren, wo er 1514 auch starb. Nach einem Studium der freien Künste und des Kirchenrechts in Leipzig verbrachte er drei Jahre (1463-1466) in Padua, wo er Medizin studierte und sich Italienisch, Griechisch und Hebräisch aneignete (den beiden letztgenannten Sprachen hatte der Humanismus zu neuem Ansehen verholfen). Als Doktor der Medizin findet man ihn 1466 in Nürnberg wieder, wo er als Stadtarzt praktiziert und Mitglied des Großen Rats von Nürnberg wird. Zugleich gehört er dem Humanistenkreis um Willibald Pirckheimer, Thomas Münzer (der ebenfalls Arzt war) und Konrad Celtis an. Hartmann Schedel ist einer der großen Bibliophilen und Sammler seiner Zeit. Der Inhalt seiner Bibliothek ist uns durch den von ihm selbst verfassten, noch erhaltenen Katalog bekannt; besonders bemerkenswert ist die Tatsache, dass ein Teil seiner Bücher heute zu den Sammlungen der Bayerischen Staatsbibliothek gehört und einige Bände sogar in der Bibliothèque nationale de France aufbewahrt werden. Bei Schedels Büchern handelte es sich, wie ein Historiker festhält, um "die typische Sammlung eines Geistesarbeiters aus jener Zeit"; auf jeden Fall galt sie als die schönste in ganz Nürnberg. Der handschriftliche Katalog von Schedel listet 723 Werke auf. Selbstverständlich findet man unter ihnen Titel, die in die Handbibliothek eines jeden Arztes gehörten, aber auch solche über die anderen Wissenschaften, über Philosophie und über Geschichte. Daneben befanden sich auch Handschriften in der Sammlung, u.a. eine Chronik des Beda Venerabilis aus dem 9. Jahrhundert. Unter allen im Spätmittelalter verfassten Chroniken ist die Schedelsche zweifellos die wichtigste. Anders als der besonders im französischen Sprachraum geläufige Titel - Chronique de Nuremberg - es nahelegt, hat sie nicht ausschließlich die Geschichte der Stadt Nürnberg zum Inhalt, sondern es handelt wirklich um eine Universalgeschichte. Ihre auf klassischen Vorbildern beruhende Struktur greift auf eine Einteilung zurück, die der hl. Augustinus bereits in seiner Civitas Dei verwendet hatte: In Analogie zu den sechs Tagen der Schöpfung, aber auch mit Bezug auf die sechs Lebensalter des Menschen und auf die Verbindungen, die zwischen Mikrokosmos (Mensch) und Makrokosmos (Universum) bestehen, unterscheidet Schedel sechs Weltzeitalter: Das erste Zeitalter reicht von Adam bis zur Sintflut; das zweite von der Sintflut bis zu Abraham; die drei folgenden über Abraham, König David und die babylonische Gefangenschaft bis zur Geburt Christi. Das sechste Zeitalter ist nach Schedel "die Zeit, die jetzt abläuft". Am Ende des Werks sind drei Blätter unbedruckt: Sie sollen es den Lesern ermöglichen, bei Bedarf nach und nach die herausragenden Ereignisse einzutragen denen sie beigewohnt oder an denen sie mitgewirkt haben. Mit Rückgriff auf verschiedene, besonders italienische (Platina, Piccolomini, Petrarca, Boccaccio…) und französische (Vinzenz von Beauvais) Quellen, erzählt der Verfasser die Geschichte der Welt, so wie man sie zu seiner Zeit verstand: Biblische Erzählungen stehen neben geographischen Beschreibungen (Städte, Länder, Inseln…), die Erwähnung besonderer Naturereignisse (Naturkatastrophen wie etwa der Erdrutsch, der zur Zeit Ludwig des Heiligen in Burgund 5000 Menschen das Leben kostete) neben manch wundersamer Begebenheit. Den interessantesten Teil des Werks bildet zweifellos die Geschichte der deutschen Städte und die Erzählung/Darstellung zeitgenössischer Ereignisse. So sei etwa darauf hingewiesen, dass Schedel auf Bl. 252v die Erfindung des Buchdrucks begrüßt, den er als "göttliche Kunst" bezeichnet. Zweifellos beruht die Berühmtheit des Liber chronicarum
weniger auf dem Wert seines Texts (den die Wissenschaftler wegen seines
Kompilationscharakters und wegen der Naivität, die Schedel immer
wieder an den Tag legt, meist nicht sehr hoch angesetzt haben) als auf
der Zahl und der Qualität seiner Abbildungen. In der Tat enthält
das Werk nicht weniger als 1800 Illustrationen, die von etwa 650 verschiedene
Stöcken stammen. Zum Ruhm des Werks hat auch die Tatsache beigetragen,
dass zahlreiche Exemplare ganz oder teilweise "farbig ausgemalt"
wurden. Dem Kolophon kann man entnehemen, dass die Illustrationen von
Michael Wolgemut und seinem Schwiegersohn Wilhelm Pleydenwurff stammen;
ebenfalls genannt werden Anton Koberger als Drucker, sowie die Geschäftsleute
Sebald Schreyer und sein Schwager Sebastian Kammermeister als Auftraggeber.
Der im Jahr 1491 unterzeichnete Vertrag, in dem sich die Künstler
dem Drucker gegenüber verpflichten, ist übrigens erhalten. Wolgemut
und Pleydenwurff überließen zweifellos ihren Mitarbeitern die
Aufgabe, die zahlreichen Prägestöcke zu schneiden, die nicht
nur Porträts verschiedener, meist untereinander austauschbarer, Persönlichkeiten
(biblische Gestalten, Heilige, Päpste, Könige, Kaiser, Philosophen
u.s.w.) in Kleidern des 15. Jahrhunderts, Tiere, Fabelwesen und Monstren,
sondern auch - und zwar ganz besonders - Städteansichten aus Orient
und Okzident darstellen, die allerdings häufiger erfunden sind als
dass sie der topographischen Wirklichkeit entsprechen, und zwar um so
mehr, als sie in aller Regel keine perspektivische Darstellung kennen.
Dessen ungeachtet hat man von der Schedelschen Chronik als von dem "ersten
illustrierten Führer für Touristen" gesprochen. Abschließend
sei noch hervorgehoben, dass man häufig die Möglichkeit erwogen
hat, dass der junge Albrecht Dürer an diesem großen Unternehmen
mitgearbeitet haben könnte. In der Tat war Dürer gerade "zu
dem Zeitpunkt bei Wolgemut in der Lehre, an dem man die Holzschnitte für
die Chronik vorbereitete" (Caroline Joubert); darüber hinaus
zeigen manche Illustrationen des Werks frappierende Ähnlichkeiten
mit späteren Schnitten von Dürers eigener Hand. Allerdings deutet
nach den jüngsten Ergebnissen der Forschung alles darauf hin, dass
wir es hier mit einer "Legende" zu tun haben. Bibliographie. L'Image du monde en 1493 : histoire
naturelle et surnaturelle dans la Chronique de Nuremberg, Caen, Bibliothèque
municipale, 1993. - Livres d'images, images du livre : les plus beaux
incunables de l'Université de Liège, Liège, Crédit
communal, 1993. - Weltchronik : kolorierte Gesamtausgabe von 1493, Einl.
und Kommentar von Stephan Füssel, Köln, Taschen, 2001. |
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