Autor : Dr. Volker Henn
Akad. Direktor, Universität Trier, FB III: Geschichte

 

 

Der 1425 in Laer bei Hostmar im Münsterland geborene Werner Rolevinck entstammte einer wohlhabenden und angesehenen bäuerlichen Familie. Sein Vater bewirtschaftete den der Johanniter-Kommende in Burgsteinfurt gehörenden Schultenhof Rolevinck und war Burrichter in seinem Heimatort. Über den Lebensweg des jungen Werner Rolevinck ist wenig bekannt. Manches spricht dafür, dass dem Studium der Rechte an der Kölner Universität in den Jahren 1444-1447 der Besuch der Stadtschule in Coesfeld und der Domschule in Münster vorausging. (Ein gelegentlich vermuteter Schulbesuch in Deventer, dem Zentrum der Devotio moderna, läßt sich nicht belegen.) Im November 1447 trat Rolevinck in das für seine strengen Ordensregeln bekannte Kölner Kartäuserkloster St. Barbara ein und legte dort 1448 seine Mönchsgelübde ab. Hier starb er am 26. August 1502 an der Pest.

In den 55 Jahren seines abgeschiedenen klösterlichen Lebens hat sich Werner Rolevinck nicht nur dem intensisven Studium der Hl. Schrift und der Werke der Kirchenväter gewidmet, sondern auch selbst eine rege schriftstellerische Tätigkeit entfaltet. Davon zeugen 40 nachgewiesene und weitere 13 ihm zugeschriebene, aber noch nicht aufgefundene Schriften. Zumeist sind es exegetische, homiletische oder hagiographische Texte; aber es finden sich auch solche, die sich mit gesellschaftstheoretischen Fragen befassen, so ein Bauernspiegel („De regimine rusticorum“, 1472), ein Adelstraktat („De origine nobilitatis“, 1472) und ein bislang wenig beachteter Fürstenspiegel („De optimo genere gubernandi“, ca. 1487), in denen Rolevinck konservative, die bestehende Herrschaftsordnung akzeptierende und die Notwendigkeit der Bewahrung des sozialen Friedens betonende Vorstellungen vertrat; dabei forderte er freilich nicht nur den Gehorsam der Untergebenen, sondern auch eine gerechte Amtsführung seitens der Herrschenden. Viele seiner Schriften erschienen in den 70er Jahren des 15. Jahrhunderts bei Arnold Therhoernen in Köln im Druck, manche in mehreren Auflagen, und erreichten so einen breiteren Rezipientenkreis.

Bleibenden Ruhm erwarb Rolevinck vor allem mit zwei Arbeiten, dem vermutlich 1478 gedruckten „Westfalenbuch“ („Liber de laude antiquae Saxoniae nunc Westphaliae dictae“), der ersten über bestehende territoriale Grenzen hinausgehenden Kultur- und Sittengeschichte einer historischen Landschaft, und dem vier Jahre zuvor erschienenen „Fasciculus temporum omnes antiquorum cronicas complectens“. Dieses knappe Kompendium der Weltgeschichte wurde zum „Ploetz“ des ausgehenden 15. und des 16. Jahrhunderts und zu einem der größten Verkaufserfolge der Inkunabelzeit. Bis zum Tode Rolevincks erlebte es 25 lateinische und 7 volkssprachige Auflagen und wurde auch im 16. Jahrhundert noch mehrfach gedruckt, nicht nur in Deutschland, sondern u.a. auch in Frankreich, Italien und Spanien. Die große Beliebtheit des Buches, von dem Ottokar Lorenz 1887 noch sagte, dass ein „kläglicheres Machwerk“ im Mittelalter schwerlich entstanden sei, dürfte der Tatsache zuzuschreiben sein, dass Rolevinck versucht hat, die zeitliche Zuordnung des historischen Geschehens sowie die Gleichzeitigkeit von Ereignissen unter Zuhilfenahme graphischer Elemente auf einen Blick erkennbar zu machen. Zu diesem Zweck durchläuft das gesamte Buch ein Band, die „Linea Christi“, das jede Seite etwa in der Mitte teilt. Auf ihm sind auf dem oberen Rand die Jahreszahlen seit der Erschaffung der Welt im Jahre 5199 v. Chr. und auf dem unteren Rand die Jahre vor bzw. nach der Menschwerdung Christi fortlaufend eingetragen. Berücksichtigt ist außerdem das in der mittelalterlichen Weltchronistik verbreitete, weil heilsgeschichtlich bedeutsame Sechs-Aetaten-Schema. Dieser dreifachen Chronologie werden in der vorchristlichen Zeit das biblische Geschehen einerseits und die weltlichen Ereignisse andererseits unterhalb bzw. oberhalb des genannten Bandes zugeordnet. In der nachchristlichen Zeit wird sinngemäß die Geschichte der Päpste, die die „Linea Christi“ weiterführen, resp. die der Kaiser und Könige dargestellt, wobei die Namen der handelnden Personen (gelegentlich auch wichtige Ereignisse) in Kreise eingetragen, durch Linien miteinander verbunden und auf diese Weise optisch hervorgehoben werden. Von der zweiten Aetas an, in deren Verlauf nach Rolevinck der Adel entstanden ist, wird die „Linea Christi“ in der oberen Blatthälfte durch eine „linea regum/imperatorum“ ergänzt, die, beginnend mit den assyrischen Königen, die weltlichen Herrscher bis zu Kaiser Friedrich III. darstellt. Mögen auch die Texte, die Rolevinck bewußt in äußerster Kürze („summa brevitate“) abgefasst hat, eher dürftig sein, so bot der „Fasciculus temporum“ mit seiner synoptischen Präsentation der historischen Nachrichten und einem dem Text vorangestellten Stichwortverzeichnis doch die Möglichkeit einer schnellen Orientierung und Information. Aufgelockert wird der Text durch die Beigabe einiger Holzschnitte, die z.T. mehrfach verwendet worden sind. Eine intensivere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem „Fasciculus temporum“ und eine kritische Edition des Textes stehen noch aus.

Die Stadtbibliothek Trier besitzt insgesamt 10 Inkunabeln des „Fasciculus“. In das Restaurierungsprogramm aufgenommen ist die aus dem Besitz des Augustinerstifts St. German stammende, bei Erhard Ratdolt gedruckte Ausgabe: Venedig 1481 (Inc. 2036 4º; Hain *6928); sie ist zusammengebunden mit Predigten, Briefen u.a. Schriften des Antonius Codrus (1446-1500), den „Elegantiae lingue latine“ des Laurentius Valla (1405 oder 1407-1457), den „Institutiones oratoriae“ des M. Fabius Quintilianus (1. Jh.) u.a. Frühdrucken des 16. Jahrhunderts. Aus einem Besitzervermerk auf dem Vorsatzblatt des Bandes geht hervor, dass dieser im Jahre 1510 einem Leonhard Noißbaum gehörte. Am Anfang fehlen acht Blätter, die das Stichwortverzeichnis enthalten haben. Die Inkunabel bietet den Text der Erstausgabe von 1474 mit Nachträgen bis 1481. Die Großbuchstaben sind von einem Rubrikator mit roten Strichen gekennzeichnet.

Literatur:

Letzte Ausgabe des „Fasciculus temorum“ bei Johann Pistorius (Hg.), Rerum Germanicarum scriptores, T. 2, Regensburg 1726, S. 397-576.

Hermann Bücker, Werner Rolevinck (1425-1502). Leben und Persönlichkeit im Spiegel des Westfalenbuches, Münster 1953.

Hans Jürgen Warnecke, Das Hofrecht von Schulze Rolevinck in Laer. Ein Beitrag zur Lebensgeschichte Werner Rolevincks und zum Erscheinungsjahr seines Westfalenbuches, in: Westf.Zs. 130, 1980, S. 31-49.

Ellen Widder, Westfalen und die Welt. Anmerkungen zu Werner Rolevinck, in: Westf.Zs. 141, 1991, S. 93-122.

Volker Henn, „... quod inter dominos et subiectos esse debet mutua dilectio.“ Zu den Ständetraktaten des Kölner Kartäusers Werner Rolevinck, in: Die Kölner Kartause um 1500, hg. von Werner Schäfke, Köln 1991, S. 199-211.

Gert Melville, Geschichte in graphischer Gestalt. Beobachtungen zu einer spätmittelalterlichen Darstellungsweise, in: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im Spätmittelalter, hg. von Hans Patze, Sigmaringen 1987, S. 57-154, bes. S. 79-82.

Johan Martens, The Fasciculus Temporum of 1471. On form and content of the incunable, in: Quaerendo 22, 1992, S. 197-204.

Angaben zum Autor:

Dr. Volker Henn, geb. 1942, Studium der Geschichte, Anglistik und Philosophie in Göttingen und Bonn; 1970 Promotion zum Dr. phil. mit einer Arbeit über das ligische Lehnrecht; seit 1970 tätig am Lehrstuhl für Geschichtliche Landeskunde, Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Trier; Forschungsschwerpunkte im Bereich der spätmittelalterlichen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Hansegeschichte, Geschichte der spätmittelalterlichen Historiographie.


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